Kaum ein anderer Bereich des alltäglichen Lebens ist derart mit Mythen und Legenden behaftet wie der Fitnesssport. Beinahe stündlich werden diese von einem Trainierenden zum anderen weitergeben, ohne auch nur im Ansatz zu hinterfragen, ob das zwischen Drückerbank und Power Rack aufgeschnappte Wissen wahrhaftig vom Baum der Erkenntnis stammt oder sich nicht doch als fauler Zauber entpuppt. Das Rätsel um das umstrittene anabole Fenster ist ein solcher Mythos, der zwischen Fitnesssportlern immer wieder aufs Neue für hitzige Diskussionen sorgt, insbesondere, wenn es um die Rolle des Post Workout Shakes im Bezug auf die Muskelhypertrophie geht.
In diesem Zusammenhang lässt sich weiterhin Frage nicht vermeiden, ob ein solches anaboles Fenster überhaupt existiert oder ob dessen Existenz nicht grundsätzlich den physiologischen Gegebenheiten des menschlichen Körpers widerspricht? Doch aufgrund der Tatsache, dass jeder Mythos über einen wahren Kern verfügt, ist es wenig verwunderlich, dass auch die vor allem unter Bodybuildern omnipräsente Theorie rund um ein sogenanntes anaboles Fenster ein Quäntchen Wahrheit in sich trägt.
Der Schlüssel zum Verständnis
Um zu verstehen, um was genau es im Zuge der Theorie des anabolen Fensters geht, gilt es zunächst zu verinnerlichen, welche biochemischen Prozesse während des Trainings beziehungsweise danach ablaufen. Damit Leistung in Form von bewegtem Gewicht erbracht werden kann, benötigt der menschliche Organismus Energie. Vor allem im Rahmen des klassischen Hypertrophietrainings, welches in einem Wiederholungsbereich von 6-12 absolviert wird, spielen Kohlenhydrate bei der Energiegewinnung eine entscheidende Rolle. Diese werden durch die körpereigenen Glykogenspeicher, die sich sowohl in der Muskulatur als auch in Leber befinden und im Durchschnitt zwischen 350 und 500 Gramm fassen, bereitgestellt und in den Mitochondrien zur Energieerzeugung herangezogen. In Abhängigkeit zur Belastungsdauer leeren sich diese Speicher entsprechend schnell. Weiter führt Hypertrophietraining zur Überlastung der vorhandenen Gewebsstruktur, was nicht nur zur zielführenden Ausschüttung von essenziellen Wachstumsreizen führt, sondern auch zu minimalen Rissen im Muskelgewebe, die nur durch Proteine repariert werden können. Der Körper befindet sich dementsprechend in einem katabolen, also abbauenden Stoffwechselzustand im Zuge dessen er in der Lage ist, durch die Verbrennung körpereigener Energieträger Leistung zu erbringen.
Dem Mythos auf der Spur
Exakt dieser Punkt bereitet dem Mythos rund um ein anaboles Fenster den Weg. Vor allem im Bereich des Krafttrainings gilt folglich der Grundsatz, dass durch eine zeitnah erfolgende Nährstoffzufuhr, vor allem in Form von Protein und Kohlenhydraten, die katabolen Prozesse gestoppt werden müssen, um die anabole, also „aufbauende“ Regeneration einzuleiten. Der klassische Mythos besagt indes, dass in einem Zeitraum von rund 45 Minuten nach dem Training die Aufnahmefähigkeit des Körpers für Nährstoffe am höchsten ist und folglich innerhalb dieses Korridors zwingend Proteine und Kohlenhydrate zugeführt werden müssen, um so effektiv wie nur irgend möglich Muskulatur aufbauen zu können. In diesem Kontext wird auch häufig mit einer angeblich erhöhten Proteinsynthese während exakt dieser 45 Minuten argumentiert, was vor allem dazu dient, eine hohe Proteinzufuhr unmittelbar nach dem Training zu rechtfertigen. Eine Studie der American Physiological Society aus dem Jahr 2001 konnte hingegen belegen, dass die Proteinsynthese unmittelbar nach dem Training sogar um 30% geringer ist als im Ruhezustand. Weiterhin ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Proteine und Kohlenhydrate zunächst den gesamten Verdauungsapparat durchlaufen müssen, bevor sie überhaupt ins Blut gelangen können. Insbesondere aufgrund der Tatsache, dass der Verdauungstrakt in den seltensten Fällen gänzlich frei von verdauungsverlangsamenden Fetten ist, ist die Annahme, dass die zugeführten Nährstoffe innerhalb des anabolen Fensters dem Blutkreislauf zugeführt werden können ohnehin hinfällig. Folglich existiert ein solches anaboles Fenster der klassischen Lesart nicht.
Das wahre anabole Fenster
In Wahrheit bezeichnet ein anaboles Fenster schlichtweg den Zeitraum zwischen dem Ende der katabolen Stoffwechselprozesse und dem Abschluss der vollständigen Regeneration sowohl der Energiespeicher als auch des Muskelgewebes. Dieser Zustand dauert rund 72 Stunden an, wobei jedoch anzumerken ist, dass eine ergänzende Studie der American Physiological Society im Jahr 2003 belegen konnte, dass die Proteinsynthese besonders innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Beendigung des Trainings in erhöhtem Maße stattfindet. Demzufolge ist es nicht notwendig unmittelbar nach dem Training einen reinen Proteinshake zu konsumieren, um ein imaginäres anaboles Fenster zu erwischen. Im Gegensatz zum Proteinkonsum ist die Zufuhr von kurzkettigen Kohlenhydraten in absehbarer Zeit nach dem Training in vielerlei Hinsicht gewinnbringend, denn die Regenerationsfähigkeit des Körpers profitiert in erheblichem Maße von gefüllten Glykogenspeichern. Sind diese hingegen leer, so benötigt der Organismus wesentlich länger um sich zu regenerieren und ist zugleich anfälliger für externe Störungen wie Krankheitserreger. Darüber hinaus erhöhen hochglykämische Kohlenhydrate in Form von Dextrose oder Fructose die Ausschüttung des anabolen Hormons Insulin, wodurch ebenfalls die regenerativen Prozesse angestoßen werden.
Mythos zerstört
Letztendlich bleibt festzuhalten, dass ein anaboles Fenster, welches sich nur kurzzeitig unmittelbar nach dem Training öffnet, nicht existiert. Es entspricht jedoch der Wahrheit, dass sich die regenerativen Stoffwechselprozesse des Organismus durch die gezielte Nährstoffzufuhr fördern lassen, wenngleich dies nicht im direkten Zusammenhang mit dem Volumen des potenziellen Muskelaufbaus steht. Folglich ist eine gleichmäßig über den Tag verteilte Zufuhr von Protein eher anzuraten, als auf Biegen und Brechen noch in der Trainingskleidung steckend ein theoretisches anaboles Fenster zu jagen. Vor allem erfahrene Sportler, die sich bereits über Jahre mit ernährungstechnischen Fragen auseinandersetzen, sollten mehr vertrauen in die selbstregulatorischen Fähigkeiten ihres eigenen Körpers haben und sich nicht über Nebensächlichkeiten den Kopf zerbrechen.